Nach der Flucht: Shirin in den Städten

Auf dem Tischchen vor uns stehen ein Schälchen mit Nüssen und eines mit Erdbeeren. Shirin rührt sie nicht an. Die zierliche junge Frau aus Afghanistan macht Ramadan, nur ihrem einjährigen Sohn auf dem Schoß steckt sie ab und zu eine Erdbeere in den Mund. Ich habe mich mit Shirin in der Wohnung meiner iranischen Freundin getroffen, denn ich brauche eine Dolmetscherin von Farsi ins Deutsche. Shirin kann schon etwas deutsch, aber für ein inhaltliches Gespräch ist es noch nicht genug.

Straße durch die Wüste

(c) Barckhausen

Die Flucht

Vor zwei Jahren kommt sie zusammen mit ihrem Mann und den beiden damals sechs Jahre und 5 Monate alten Kindern in einem Lastwagen – versteckt zwischen Kartons – mitten in der Nacht in Köln an. Eine lange Reise voller Anspannung und Angst, nicht nur körperlich anstrengend, sondern auch eine enorme seelische Belastung für die Eltern. Würden die Kinder ruhig bleiben? Wie lange halten sie durch? Was, wenn sie entdeckt und zurück geschickt würden? Das ist ihre größte Angst.
In ihrer Heimat werden sie von Familienangehörigen, die Taliban-Anhänger sind, mit dem Leben bedroht. Shirin hat sich deren Vorschriften widersetzt und eine geheime Mädchenschule aufgebaut. Nach Ansicht der Familie hat ihr Mann sie nicht im Griff und soll das – wenn er sich nicht durchsetzen will – mit dem Leben bezahlen. Shirin sollte dann ihren Onkels oder deren Söhnen zur Verfügung stehen.

Ankunft in Deutschland

Shirin betont, dass sie bei ihrer Ankunft in Köln, wo sie sofort ihren Asylantrag stellten, sehr freundlich behandelt wurden. Dennoch, sie werden zur Klärung ihrer Daten keinem Dolmetscher vorgestellt (nur einmal wird einer per Telefon hinzugezogen), sie werden voneinander getrennt und von Kopf bis Fuß – auch im Schambereich und allen Löchern, die der Körper zu bieten hat – untersucht. Ihre Fingerabdrücke werden genommen, sie fühlen sich wie Verbrecher. Dann werden sie notdürftig untergebracht mit vielen anderen Menschen, unter problematischen hygienischen Bedingungen und niemals alleine unter sich. Die Anspannung hält an, was wird? Können sie bleiben? Wie verhalten sie sich richtig? Nach eineinhalb Tagen geht es wieder weiter. Nach Dortmund in ein Sammellager. Auch dort ähnliche Bedingungen, Unsicherheit. Shirin ist am Ende ihrer Kraft.

Dazu kommt Shirins Angst vor dem fremden Land. Ihr Deutschlandbild war geprägt durch einen Film, den sie als Jugendliche im Iran gesehen hatte, in dem es um eine Art Geheimarmee in Deutschland ging. Darin gingen die Deutschen sehr hart und unfreundlich mit Fremden um. Vielleicht war es ein Film über das Dritte Reich, sie weiß es nicht mehr. Selbst mit 8 Jahren in den Iran geflohen, durfte sie dort als Afghanin die Schule nicht besuchen, sie wurden mehrmals abgeschoben, ist aber immer wieder eingereist. Eigentlich hatte Shirin ihr ganzes Leben lang keine Heimat und immer eine ungewisse Zukunft. Wie hält das eine Menschenseele aus?

Wegweiser in unterschiedliche Richtungen

(c) Birgit Kausch

Quer durch das Land

Nach zwei Tagen drückt man der kleinen Familie Fahrkarten in die Hand und einen auf Deutsch geschriebenen Zettel, auf dem Uhrzeit, Zugnummer und Straßenbahnlinien vermerkt sind und eine Adresse in Bremen. Immer wieder müssen Shirin und ihr Mann Menschen um Hilfe bitten, sie verstehen kein Wort und versuchen die Gesten der Helfenden zu verstehen. Letztendlich landen sie aber doch in Bremens Neustadt, in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber. Shirin hat kaum noch Kraft zu laufen und wünscht sich nur noch eines, eine Unterkunft, ein Bett – Ankommen. Aber auch hier werden sie erst ausführlich befragt – wieder getrennt – aber endlich mit Hilfe eines Dolmetschers. Shirin wird 45 Minuten befragt, ihr Mann eineinhalb Stunden.
Wenn afghanische Frauen heiraten, verlieren sie ihren Namen und bekommen Nummern. Der Ehemann erhält den Vornamen seines Vaters, nicht den Nachnamen. So verwischt sich jede Spur einer Frau und es ist oft schwer, Abstammungsurkunden zu erhalten. Das einem hiesigen Amt zu erklären, ist schon allein eine Herausforderung. Wieder werden sie in einem Sammellager untergebracht, auch dieses ist überfüllt und die hygienischen Bedingungen – zumal für die Kinder – sind grenzwertig. Aber zum ersten Mal seit ihrer Flucht haben sie ein Zimmer für sich und sie haben nur noch einen Wunsch – schlafen, nur noch schlafen, selbst an essen denken sie nicht.

Ein erster Ruhepunkt

Hier bekommen sie nun endlich Papiere, ein kleines bisschen Sicherheit, ein wenig Hoffnung. Einen Monat bleiben sie dort, dann kommen sie in ein Heim in Huchting. Auch das ist überfüllt, aber sie haben eine eigene kleine Küche und ein eigenes Bad, Shirin kann für ihre kleine Familie kochen und die Wohnung selber sauber halten. Man bemüht sich, ihnen zu helfen. Shirin kann nicht sagen, ob es Ehrenamtliche oder Mitarbeiterinnen der Behörde sind. Mehrmals in der Woche kommen Betreuer und Dolmetscherinnen ins Heim.
Zwei Mal in der Woche kommt ein Arzt oder eine Ärztin, drei Mal in der Woche können sie an einem Deutschkurs teilnehmen, auch die Mütter, denn die Kinder werden betreut. Es gibt einen Raum mit gespendeter Kleidung und Spielzeug, zu Weihnachten bekommen alle Geschenke – neue Geschenke, wie Shirin betont. Die Bewohner organisieren Treffen, tauschen sich aus und unterstützen sich gegenseitig, es wird sogar eine Party veranstaltet, zu der alle etwas beisteuern. Auch die ehrenamtlichen Deutschen feiern mit.
Dennoch, ihr Begleiter bleibt die Angst – nie wissen sie, was morgen sein wird, nie können sie sicher sein, ob sie letztendlich bleiben dürfen. Und eine große Belastung ist die Sorge um Ihre Mutter in Afghanistan, die weiter den Drohungen der Verwandten ausgesetzt ist. Kontakt halten sie heimlich und sehr selten über ein Handy.

Rückenansicht Frau mit Kopftuch und Kleinkind

(c) Barckhausen

Angekommen

Nach sechs Monaten weist man ihnen eine eigene Wohnung in Bremen zu. Sie sind angekommen, die Tochter darf die Schule besuchen. Und nun erst kommt bei Shirin der Zusammenbruch. Sie wird krank und ist bis heute nicht ganz gesund geworden. Inzwischen haben sie ein drittes Kind. Ihre große Tochter ist heute acht Jahre alt und übernimmt Dolmetscherfunktion bei Arztbesuchen und im Austausch mit der Schule. Kontakt zu Deutschen haben sie nicht. Aber ihr Bild von Deutschland hat sich seit ihrer Ankunft verändert. Sie hat bis heute keine schlechten Erfahrungen gemacht. Im Gegenteil, es gefällt ihr sehr, dass sie hier, wenn sie mit ihrem Mann unterwegs ist, als Person und Frau auch neben ihm wahrgenommen wird. Das genießt sie sogar ein bisschen.
Aber sie würde sich wünschen, dass man nicht so lange mit der Angst und der Unsicherheit leben muss, das macht krank. Sie hat immer noch Angst, zurückgeschickt zu werden. Und ihr größter Wunsch für die Zukunft? Sie möchte unbedingt schnell und gut Deutsch lernen. Und dann als Lehrerin arbeiten dürfen, oder als Erzieherin. Ihr wichtigster Wunsch aber ist, dass die Kinder eine Zukunft haben. In dem Moment als sie das sagt, fangen ihre Augen an zu leuchten.

Andrea Barckhausen

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