Zeit der großen Pause

Fahrräder und Fahrradweg

(c) Elfie Siegel

Über meine Einkäufe fürs Mittagessen sinnend, schiebe ich mein Rad über den Fußweg. Es ist die Zeit der großen Pause. Viele Schüler quirlen meist in Plaudergruppen über den breiten Gehweg. Eine Bahn hält neben mir. Fahrgäste steigen aus, neue ein. Ich schiebe durch die Menge. Halte abrupt.

Vor meinem Vorderreifen flitzt eine junge Frau blitzgeschwind vorüber. Sie kommt aus einer Drogeriefiliale, will die Bahn noch erreichen, springt in die letzte offene Tür. Drei Meter hinter ihr flitzt eine nicht mehr ganz so junge Frau genauso blitzgeschwind und auch an meinem Vorderreifen vorbei. Sie trägt einen weißen Kittel, stürmt auch in die Bahn, ruft, dass die hintere Tür geschlossen bleiben soll, packt die junge Frau am Arm, führt die Widerstrebende hinaus. Zögernd schließt sich die Bahntür hinter den Beiden. Die Jüngere windet sich im Griff der Älteren. Die lässt nicht los. „Ich war’s nicht!“ Das Stöhnen klingt verzweifelt. „Meine Mutter. Die darf das nicht erfahren.“ Ihr sorgfältig geschminktes Gesicht verzieht sich. Sie weint fast. „Ich wurde schon mal erwischt. Bitte nicht.“ „Erst mal mitkommen“, beruhigt die Ältere. Die Zwei gehen zurück in den Laden. Hinter ihnen schließt sich die Schwingtür.

Meine Einkäufe nebenan im Supermarkt sind schnell erledigt. Zwischen den Regalen geht mir die Straßenszene nicht aus dem Kopf. Ich könnte noch eine Kerze im Drogerieladen kaufen. Die Hintertür zu den Büroräumen dort ist jetzt verschlossen. Ich frage die Kassiererin nach der aufregenden Szene eben und was mit der Schülerin geschehen wird. Sie müsse ihren Ausweis vorlegen, sagt sie mir, dann wird sie angezeigt. Die Detektive seien schon unterwegs.

Lippenstift auf Lippen

(c) frauenseiten, Robers

Die Verzweiflung des jungen Mädchens berührt mich sonderbar. Was treibt das Kind zum Diebstahl? Armut ist es nicht. Sie war hübsch gekleidet und geschminkt. Lust auf Abenteuer? Langeweile in der Schule? Verzweiflung über eine bizarre Welt? Hier der Konsum und der Glamour, dort die Flüchtlingsboote und die Fleischzuchtfabriken. Während ich mein Rad aufschließe, gehen zwei Schüler an mir vorüber. Oberstufenalt, schätze ich. Sie unterhalten sich über Geflügelproduktion und noch effizientere Planungen. Ihre Stimmen klingen empört. Die Beiden teilen sich ein Brötchen – ohne Belag.

Ich schwinge mich in den Sattel und fahre nach Hause. Dort zünde ich die Kerze an. Vielleicht geht mir ein Licht auf, warum die Welt so ist, wie sie ist. Zeit für eine große Pause. Halt. Erst einmal schreibe ich das hier auf.

Eleonore Born

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