Unterwegs und doch zu Hause – Die Bewohnbarkeit des Lebens

Prof. Dr. Annelie Keil wirft einen ganz neuen Blick auf das Thema „Wohnen“.

Leben ist ohne festen Wohnsitz, mit jedem Herzschlag in Bewegung und immer unterwegs! Aber gleichzeitig ist Leben auch immer vor Ort, also sesshaft, denn die menschliche Existenz ist „leibhaftig“ und kann sich von dieser Angebundenheit als Bedingung des Überlebens nicht trennen. Als kleines befruchtetes Ei beginnt der Mensch die Suche nach einer Bleibe mit einer „Hausbesetzung“, der Einnistung in eine Gebärmutter ein. Diese erste Wohnung, Einzimmerappartment mit Badewanne und Küchenbenutzung, zeigt, dass das Unterwegssein ins eigene Leben im Inneren eines anderen Menschen-Hauses beginnt und weiter lebenslang auf Kooperation, Austausch und Auseinandersetzung angewiesen bleibt.

Zusammenleben auf vielfältige Art

Um ein Dach über dem Kopf zu finden, muss der Mensch also immer gemeinsame Sache mit der Welt machen, die ihn umgibt: sich binden, einbinden und wieder entbinden. Nach der Zeugung bindet sich der kleine Mensch in den mütterlichen Organismus ein, er entwickelt sich dabei selbst und verändert dabei sichtbar auch sein Zuhause, den Mutterleib. Nach neun Monaten bedingungslosem Asyl kommt mit der fristlosen Kündigung die Aufforderung, das Licht der Welt zu erblicken- auch wenn es da draußen dunkel zu sein scheint. Leben beginnt mit einer „Entbindung“, einem Aus- und Umzug, der erst mit dem Tod endet. Wir ziehen von einer ersten Welt, die uns mit jedem Entwicklungsschritt zur Heimat geworden ist, in die nächste Welt, die uns erst zur Heimat werden muss.

Innere und äußere Beheimatung gehen Hand in Hand. Jede Behausung, jeder Wohnungswechsel kann zum Erlebnis des Glücks werden, wenn Ankunft gelingt, aber auch zum Erleben von Fremdheit und Entfremdung werden. Was uns im Verlauf des Lebens einen sicheren Boden, ein schützendes Dach gewährt, wirklich zur Heimat im Sinne eines Einklangs zwischen Innen und Außen wird, erfahren wir erst, wenn wir leben und uns ansiedeln. Wo und wie waren wir als Kinder zu Hause, wie als Jugendliche, wie als Erwachsene? Welche Plätze haben wir geliebt, welche gemieden? Wie waren die Mitbewohner? Wie oft sind wir umgezogen und warum? Ankunft und Abschied geben sich im Unterwegssein des Lebens ständig die Hand.

Das leibliche Haus hütet das biografische Geheimnis unseres Lebens

Im Rahmen unserer Biografie sind wir immer auf Wohnungssuche, ziehen in unser Leben ein und wieder aus, führen hinter irgendwelchen Mauern ein „gemäßigtes“, „glückliches“, „eingekerkertes“ oder „ängstliches“ Leben. Wer mit sich selbst vertraut ist, sich seelisch, geistig und sozial zu Hause fühlt, wer weiß, wo Fenster und Türen sind, um mit sich selbst und der Welt im Austausch zu sein, kann sich besser gegen Stürme und Wetterlagen des Lebens schützen. Das Haus ist ein Gefäß, in dem wir uns im Angesicht der Unendlichkeit des Universums auf unser Maß beschränken. Und als leibliches Haus, das wir nie verlassen können, hütet es das biografische Geheimnis unseres Lebens.

Der Mensch ist bei der Schaffung seiner Lebensorte im Innen wie im Außen sein eigener Architekt, Bauherr, Eigentümer, sein Gärtner und sein Wächter. Was der Mensch baut, bewohnt, sich einrichtet und wie er sich im Stoffwechsel mit der Welt einbringt, hat mit seinem Denken, Fühlen, Wollen, seiner leiblichen Verfasstheit und seinem Handeln zu tun. Der Geist ist unterwegs und baut sich aus seinen Erfahrungen ein Nest, nicht zufällig wird das Gehirn neuerdings ein Sozialorgan genannt.

Auch die Seele ist unterwegs und genetisch darauf angelegt, Erfahrungen in Gefühle umzusetzen und mit Botenstoffen zu versehen, die uns fühlen lassen, was Liebe, Wut, Angst oder Heimatlosigkeit ist. Soziale Bedrohung und die Angst vor Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust oder Krankheit brauchen ein Zuhause und suchen vielleicht Herz, Leber und Magen auf, binden das Denken, blockieren das Handeln. Denken, Fühlen und Handeln schaffen sich ihre Orte im Menschen, beheimaten sich, lösen Wohlbefinden oder Befindlichkeitsstörungen aus. Jeder weiß, wie schwer es ist, einem hartnäckigen Gefühl wie Eifersucht, Neid oder Geiz einfach die Tür zu weisen.

Wer immer bleibt, verliert sich

Einen Ort zu haben, ein Haus zu bewohnen, sich selbst verorten zu können, gibt orientierende Sicherheit. Man kann sich dem Außen entziehen. Umgekehrt scheint die wirkliche Freiheit über den Wolken zu sein, im unendlichen Raum gibt es keinen festgelegten Ort. Immer wieder will der Mensch den scheinbar sicheren Raum verlassen, will unterwegs sein, sich dem Wind entgegenstemmen, dem Fremden begegnen, sich der unverhofften Bedrohung stellen. Lebensorte der Behausung sind Ausdruck der Sesshaftigkeit. Feste Wohnsitze sind gewollt, Nebenwohnsitze verlangen nach Rechtfertigung. Wer wohnungslos unterwegs ist, ist ein Ausgesetzter, ein Illegaler, dem die Bürgerrechte zur Not verweigert werden, dem man nichts schuldig ist, nicht einmal die Unantastbarkeit seiner Würde. Die Unruhe des Menschen soll domestiziert, die Liebe zum fernen Horizont reduziert werden.

Leben aber lebt von der Grenzüberschreitung. Nur indem wir ständig über uns hinausschreiten, können wir überhaupt leben. Wer immer bleibt, verliert sich auch. Notwendige wie freiwillige Umzüge zeigen uns, dass wir vieles, mit dem wir uns eingerichtet haben, gar nicht brauchen. Das eingerichtete Haus einer Partnerschaft, einer Familie, einer Arbeit, einer Profession birgt auch die Gefahr, zum Ort für Entfremdung, Gewalt und innerer Heimatlosigkeit zu werden. Ob der Mensch da, wo er ist, wirklich seinen Ort hat und zu Hause ist, steht immer wieder in Frage. Die Fesseln, die in den eigenen Systemen der Behausung stecken, sind die Wegweiser auf der Suche nach dem eigenen Weg- und der eigenen Wohnung.

Prof. Dr. Annelie Keil