Weihnachten in düsteren Zeiten

oder

Die alte Lehrerin

Sie hieß Fräulein Stein*). Ältere Single-Frauen blieben damals Fräulein.

Es war Mitte der vierziger Jahre im Winter.

Die folgenden drei Erinnerungen zeigen die Persönlichkeit meiner alten Lehrerin:

—Fräulein Stein hatte eine Frau bei sich aufgenommen. Nur Stoppelhärchen wuchsen auf ihrem Kopf. Sie trug Kleidung, die wir sonst an Fräulein Stein gesehen hatten. Kam sie aus einem KZ, einem Ghetto oder aus einem Gefängnis?

—In der Adventszeit ging unsere Lehrerin mit uns in eine ehemalige Gastwirtschaft. Der große Raum war mit hängenden Wolldecken abgeteilt. In jedem Abschnitt lebte eine Flüchtlingsfamilie. Wir sangen Weihnachtslieder. Ein Junge in unserem Alter schaute ernst mit großen Augen hinter einer Decke hervor.

—Kurz vor Weihnachten wanderte Fräulein Stein mit uns in einen verschneiten Wald. Hinter dichtem Gebüsch mussten wir warten. Und psst nicht so laut schwatzen. Nach einer gefühlt unendlich langen Wartezeit rief sie uns. Wir sahen ein Märchenbild: Eine der schneebedeckten Fichten war mit weißen brennenden Kerzen geschmückt. Hinter dem Baum kam unser Mitschülerin Christine hervor. Ihre Zöpfe waren aufgelöst. Das Haar fiel über ihre Schultern. Sie trug ein weißes Gewand. Einen Weihnachtsbaum mit Engel hatte uns die alte Lehrerin beschert. Wir sangen: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter“ und „O du fröhliche, o du selige Gnaden bringende Weihnachtszeit.“ Schweigend und selig liefen wir durch den Wald zurück.

Noch heute bin ich gerührt, wenn ich daran denke…an dieses Weihnachtswunder in traurigen Zeiten, im Nachkriegs-Deutschland.

 

*) Name geändert

 

Elfie Siegel

 

 

  1 comments for “Weihnachten in düsteren Zeiten

  1. Waltraut Boschen sagt:

    Weihnachten in düsteren Zeiten Das war eine schöne Geschichte .Auch ich erinnere mich , gerade jetzt in der Coronazeit , an eine Zeit , wo wir zu Weihnachten glücklich waren , wenn wir zu essen hatten , wenn ein bunter Teller für uns Kinder das größte Geschenk war .Heute leben wir eher im Überfluss , damals hätten wir gar nicht gewusst , wie wir damit umgehen sollten . Ein goldener Mittelweg für uns alle , das wäre dringend angebracht .Denn wie können wir glücklich Weihnachten feiern , wenn ein Teil der Menschheit hungert , frieren muss und zusehen muss , wie gut es anderen geht . Gerechtigkeit darf kein Fremdwort bleiben , teilen muss selbstverständlich werden . W. Boschen

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