Frühjahr 1947 – Privates

Zerstörtes Haus

(c) frauenseiten.bremen, Robers

Seit Jahren war der Abriss fällig. Die Bretter gaben auch sofort nach, als ein Paar kräftiger Hände daran zog. „Alles Schutt“, sagte der junge Mann, dann fand er ein Schulheft. Zwischen zwei Dachbalken eingeklemmt. Der Einband, die Blätter von der Feuchtigkeit aufgetrieben. Die Schrift – mit stumpfer, breiter Bleistiftmine aufs Papier gebracht – war noch lesbar:

Freitag, 21. März 1947

Mama wartet immer noch. Ich nicht! Ich muss hier fertig werden. Sie sollte mir lieber helfen. Wenn wirklich Post kommt, wird sie uns schon erreichen. Schlechte Nachrichten erreichen ja auch ihr Ziel. Gestern habe ich Harry Krages gesehen. Ganz dünn ist er und zieht ein Bein etwas nach. Seit wann ist er wieder in Bremen? Er sprach nicht viel. Habe ihm erzählt, dass ich versuche, den Garten zu bestellen. Frühkartoffeln und so.

Donnerstag, den 27. März 1947

Heute kam Harry hierher. Er hat einen Spaten mitgebracht und das mittlere Beet umgegraben. Manchmal hört sich sein Husten an, als ob eine Lok pfeift. Er spricht nicht viel. Morgen will er die Pumpe in Gang bringen.

Beet mit Schnittlauch und Petersilie

(c) Elfie Siegel

Freitag, 28. März 1947

Rote Bete kochen mit Kümmel,
in Scheiben schneiden,
altes Brot krümeln,
Salz, Wasser, ein Ei – mischen,
Scheiben panieren, braten,
dazu Stampfkartoffeln.

Frau Lindloge sagt, das schmeckt gut. Ich glaube wir haben noch zwei Knollen.

Montag, 31. März 1947

Anna Meyerdierks lügt! Sie redet schlecht über mich! „Hanna, dieses Amy-Liebchen, hilft nie!“ hat sie gesagt. Gerda hat es gehört. Harry auch. Gerda hat gesagt, die will mich und Mama nur aus ihrer Wohnung loswerden, damit sie wieder ein Zimmer mehr hat. Aber wo sollen wir hin? Wenn Mama bloß nicht so schwach wäre. Ich bin am liebsten hier im Garten.

Mittwoch, 2. April 1947

Es regnet. Ich kann nicht viel machen. Harry kam vorbei, ist aber nicht rein gekommen. Er soll sich bei der Postwerkstatt in Huckelriede melden. Ich habe Hunger!

Sonntag, 6. April 1947

Harry war bei der Meyerdierks zum Essen. Ich kanns ihm nicht übel nehmen. Die hat einen Schlachter zum Onkel. In Schwachhausen.
Gebratener Speck!! Die ganze Wohnung roch danach.

Freitag, 11. April 1947

Frau versteckt sich hinter einem Tuch

(c) frauenseiten, Robers

Zwei heile Jutesäcke!! Für die Kartoffeln hat Harry gesagt. Dann haben wir uns in die Laube gesetzt. Ich habe ihm erzählt, dass ich hier schon einmal eingeschlafen bin. Dann die Sperrstunde! Mama wartete! Klar haben die mich erwischt! Erst zur Polizeiwache Schleifmühle, dann über Nacht in den Domshofbunker. Alles nicht so schlimm. Aber am nächsten Tag ab zur Untersuchung ins Gesundheitsamt! Zwangsweise – muss jede erwischte Frau – haben die gesagt! Ich hatte doch noch nie. Schon 24 und noch nie …. Der Arzt hat mir geglaubt und mich ohne Untersuchung entlassen!
Harry hat nichts dazu gesagt. Er hat mich gefragt, was ich mir am meisten wünsche. Da habe ich gesagt: „Kettenkarussel fahren auf der Osterwiese!“
Wir haben richtig albern gelacht.

Sorgfältig blätterte der junge Mann das Heft Seite für Seite weiter um. Keine Zeile mehr. Nicht ein Buchstabe. Das Heft verschwand vorsichtig zusammengelegt in der Innentasche der Arbeitsjacke. Sein Blick konzentrierte sich auf den Bretterhaufen, seine Hände griffen zu. Vorsichtiger diesmal und immer wieder schaute er sich um. Irgendwie fühlte er sich beobachtet. Irgendwie war er nicht allein.

Irmtraut Hansemann

  1 comments for “Frühjahr 1947 – Privates

  1. Barbara sagt:

    Eine wunderbar poetische Geschichte!!!

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