Eluschka

Jägerzaun guckt nur noch mit Spitzen aus dem Schnee

(c) Elfie Siegel

Eine Weihnachtsgeschichte von Flucht und Vertreibung, dem Leben im Lager und einem geliebten Geschenk

Die Geschichte beginnt im Jahre 1940, vor genau 75 Jahren also. Ähnlich wie heute mußten sich Menschen auf den Weg machen, ihre Heimat verlassen, ins Ungewisse hinein.
Solca ist eine kleine Badestadt, lange gehörte sie zu Österreich/Ungarn, dann wurde sie rumänisch. Man nannte dieses Gebiet auch Buchenland. Es liegt am Rande der Karpaten.

Früh schon brach der Winter ein, legte sein weißes Tuch über die Landschaft, deckte zu, was farbig gewesen. Eisige Kälte ließ die Menschen in ihren Häusern bleiben. In einem wohligwarmen Holzhaus, es war gerade bezugsfertig geworden, lebte die inzwischen dreijährige Eluschka. Gern stand sie am Fenster und schaute über die verschneite Landschaft. Diesen Eindruck hat sie bis heute von ihrer Heimat behalten, dieses Bild ist wie eingebrannt und kann nicht verlorengehen.

Gerade hatte sie ein Schwesterchen bekommen, die kleine Maria erblickte in den letzten Oktobertagen das Licht der Welt. Die junge Familie hätte eigentlich froh und glücklich sein können. Es sollte nicht sein. Schon in den nächsten Wochen stand eine Umsiedlung der Deutschen „heim ins Reich“ an.

Lange Krankheit

Eine lange und kalte Reise mit der Eisenbahn bringt Eltern und ihre Kinder nach Österreich. Halberfroren werden sie dort in eine große Lagerhalle gebracht. Zirka 200 Menschen lagern auf Stohsäcken auf dem Boden. Zum Glück gibt es für die Mütter mit Säuglingen einen gesonderten Raum mit Betten. Bei so vielen Menschen bleibt es nicht aus, daß sich Ungeziefer einstellt. Wanzen machen sich nachts auf den Weg zu der kleinen Eluschka und mögen ihr Blut. Zuerst merkt es keiner, aber diese Gesellen kommen immer wieder, das kleine Mädchen wird krank.

Alte Puppe mit Zöpfen

(c) frauenseiten, H. Gniesmer

Sie muß ins Krankenhaus und verbringt Weihnachten 1940 dort. Hier stellen sich die üblichen Kinderkrankheiten wie Masern und Windpocken und mehr ein. Heimweh nach ihren Eltern und dem Geschwisterchen gesellt sich dazu. Das Kind wird so richtig durchgeschüttelt. Zum Glück gibt es eine Krankenschwester, die ihm sehr zugewandt ist und seine Pflege vorwiegend übernimmt. Langsam entsteht eine innige Beziehung. Zu Weihnachten schenkt diese Schwester der Kleinen ihre Puppe aus eigenen Kindertagen. Da ist sie nun nicht mehr allein. Es sollen noch viele Tage im Krankenhaus werden, insgesamt bleibt sie vier Monate. Kind und Puppe bilden ein unzertrennliches Paar.

Zurück ins Lager

Bei der Entlassung wird es kritisch, Eluschka hängt inzwischen so sehr an ihrer Krankenschwester, daß sie heiße Tränen weint, als sie wieder in das Lager zurückgebracht werden soll. Dort darf sie dann allerdings zu Ihrer Mutter, inzwischen hat man die Mutter-Kind-Unterbringung erweitert. Nur langsam gewöhnt sie sich ein, die Puppe ist ihr Ein und Alles und vermittelt.

Bald geht es dann in weitere Lager in Deutschland und später dann ganz in den Osten in den Warthegau, in die Nähe von Posen/Polen. Die Familie wird angesiedelt. Eluschka erlebt ihre Einschulung, schließt ihr erstes Schuljahr ab und wieder steht Weihnachten bevor, wir schreiben das Jahr 1944. Das Fest ist gerade herum, der Jahreswechsel steht bevor, wieder hat ein weißer und eisiger Winter das Land im Griff.

Menschen auf der Flucht schw/weiß

(c) Bundesarchiv, Bild 146-1985-021-09 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0

Erneute Flucht

Da kann erneut nur das Allernotwendigste schnellstens eingepackt werden, es geht per Treck mit Pferdewagen auf die Flucht gen Westen. Ihre geliebte Puppe hat Eluschka fest unter ihrem Mantel dabei. Sie und ihre Schwester und der beinlahme Großvater dürfen in der dem Leiterwagen angehängten Kusche sitzen, dick eingepackt. Ihr Vater ist an der Front, sie wird nun wochenlang mit ihren zwei Großvätern, ihrer Großmutter und Mutter sowie Schwester der Mutter Grausigstes erleben. Der junge polnische Knecht des Großvaters hat es auf sich genommen, diese Menschengruppe in den Westen zu bringen.

Sie schaffen es auf Umwegen tatsächlich bis kurz vor Berlin. In einem Dorf nimmt ein Gastwirtehepaar sie auf, bekommt die vier Pferde und Wagen und Kutsche geschenkt.
Bombenalarm wird nun täglich Anlaß, in die Luftschutzkeller zu flüchten. Die Puppe hat Eluschka immer dabei, sie ist ihre Beschützerin. Bald wird das Dorf von den Russen besetzt, alle Bewohner für drei Tage in einen großen Saal gepfercht. Jedes Haus soll nach Waffen durchsucht werden. Alles ging so schnell, die Puppe ist nicht dabei. Man kann sich vorstellen, wie es Eluschka in dieser Zeit geht.

Als dann die Menschen in ihre Häuser zurück dürfen erschrickt Eluschka ungeheuer, ihre Puppe ist weg. Keiner kann sie zurückhalten, sie läuft durch alle Räume dieses Gasthofes und gelangt in einen, in dem sich die Komandatur eingerichtet hat. Hier schliefen sie wohl noch bis vor kurzem. Betten und Kissen türmen sich in einer Ecke, ganz oben auf sitzt die Puppe. Keiner hätte die Puppenmutter nun abhalten können, ihre geliebte Puppe zu ergreifen und sich aus dem Staube zu machen. Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung.

Wieder ins Lager

Die Familie darf Ende 1945 in den Westen übersiedeln, kommt ins Lager Friedland, dann nach Flensburg, wo wieder vier Jahre Lagerleben folgen sollen. Erst 1948 teilt man in den Holzbaracken die großen Räume ab und der inzwischen aus Gefangenschaft hinzugekommene Vater kann helfen, die zugewiesenen 20 qm für Frau und beide Töchter endlich karg, aber eben nur für sie allein, wohnlich zu gestalten. Es gibt auch zwei Eisenbetten, das Liegen auf dem Boden ist vorbei. Die Puppe wird auf ein kleines Eckbord gesetzt, wieder einmal ein Weihnachtsgeschenk von Menschen aus der Stadt Flensburg.

Ja, wie anders als Eluschka nennt die Puppenmutter ihre Puppe, die beiden sollen den gleichen Namen haben und unzertrennlich bleiben.

Alte Puppe mit blonden Zöpfen

(c) frauenseiten, H. Gniesmer

Weihnachten 2015

Die Puppenmutter zählt dieses Weihnachten genau 78 Lenze, sie schreibt der Puppe zu Ehren die Geschichte zum Weihnachtsfest 2015 auf, schließlich sind es 75 Jahre, die man gemeinsam beieinander ist, wenn das nicht als Grund zählen soll. Sie hat diese Puppe so pfleglich behandelt, daß auch nichts kaputt gegangen ist, selbst das Kleid der Puppe ist das Gleiche wie bei der Übergabe. Die Puppe schaut wieder von einem Bord auf die Schreiberin herab und lächelt, gibt ihr Ja zu dieser Erzählung.
Langsam überlegt sich die in die Tage gekommene Puppenmutter, in welche Hände sie ihre geliebte Begleiterin geben könnte. Es soll noch mit warmer Hand geschehen, ein kleines Mädchen wird sich finden, das dann übernimmt, oder eben ein größeres, wir werden sehen. Diese Puppenbiographie geht dann auf jeden Fall mit.

Gerade in diesen Tagen gehen meine mitfühlendsten Gedanken zu den vielen Kindern, die zur Zeit auf ihren Fluchtwegen sind oder auch schon hier unterkamen. Selbsterlebtes tritt vor das Erinnerungsauge.

Elisabeth Kriechel

  1 comments for “Eluschka

  1. Ellen sagt:

    Danke für diese rührende, schöne Geschichte. Sie passt gut in die diesjährige Weihnachtszeit.

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