Interview mit Herrn Professor Dr. Görres (IGB)

Interviewer (I): Herr Görres zunächst möchte ich sie fragen, wie sie dazu gekommen sind, so etwas wie den Integrierten Gesundheitscampus Bremen (IGB) einzurichten.

Stefan Görres (SG): Wir haben ja schon erste Gespräche 2019 dazu geführt, noch mit der alten Regierung. Wir waren der Meinung, dass man in Sachen Gesundheit und Pflege in Bremen durchaus noch mehr machen kann. Insbesondere ging es dabei um die Fachberufe in Gesundheit und Pflege, wo wir ja wissen, dass wir da einen starken Mangel haben. Und wir hatten auch die Überlegung, es könnte gut sein, dass die Attraktivität der Fachberufe steigt, wenn die Fachschulen, die die Pflege- und Gesundheitsberufe ausbilden, stärker zusammenarbeiten mit den Hochschulen, die wir ja in Bremen schon seit den 90er Jahren mit den entsprechenden Studiengängen haben. In der Kombination kann das für Außenstehende, die sich überlegen, soll ich in die Pflege oder ins Gesundheitswesen gehen, durchaus attraktiv sein, wenn die sehen, man kann hier in Bremen klein anfangen, dann den akademischen Weg beschreiten und bis zum Doktortitel kommen. Dankenswerterweise hat die jetzige Koalition, und hier die Senatorin für Wissenschaft und Häfen das Thema aufgenommen u.a. mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen den Fachschulen, die Gesundheits- und Pflegeberufe ausbilden und den hiesigen Hochschulen zu verstärken, um damit den Beruf attraktiver zu machen und vielleicht auch das Defizit an Fachkräften abzumildern.

Eine weitere Überlegung galt der Gesundheitswirtschaft, die sehr interessant sein kann für Bremen. Man sollte überlegen, zwischen den Hochschulen und der Gesundheitswirtschaft, also den Unternehmen die in diesem Bereich tätig sind, die Verzahnung zu verstärken. Auch hier war der Ausgangspunkt der, dass man gesagt hat, wir haben eine sehr gute Forschung in Bremen im Bereich Gesundheit- und Pflege, aber da kommt von den Erkenntnissen wenig in der Praxis an, weil dazwischen ganz viele Störfaktoren sind. Auch diese Lücke sollte man in Bremen schließen, genauso wie die zwischen Wissenschaft und der eigentlichen Versorgungspraxis. So werden z.B. die Entwicklung von Schlüsseltechnologien wie Robotik oder auch die Digitalisierung, dringend im Gesundheitswesen gebraucht. Da haben wir auch sehr gute wissenschaftliche Institute in Bremen. Kurzum, es ging darum, die Verzahnung in diesen Bereichen der Gesundheit und Pflege zu stärken. Und das zwischen 4 Feldern, der Gesundheitswissenschaft, der Gesundheitswirtschaft, der Ausbildung von Gesundheits- und Pflegeberufen und der Gesundheitsversorgung. Und das ist in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden und gleichzeitig in den Wissenschaftsplan 2020.
Ende letzten Jahres haben wir die letzten Gespräche geführt, was die Umsetzung angeht, und dann habe ich auch relativ zügig den Auftrag bekommen mit Start 1. Februar 2021 den Integrierten Gesundheitscampus Bremen aufzubauen. Da sind wir jetzt dabei das Konzept zu entwickeln. Auf der Webseite haben wir definiert, wie wir uns verstehen.

In der ersten Zeit waren wir sehr stark mit Aufbauarbeiten beschäftigt. Wir haben die Räume hier bezogen zum 1. Mai, direkt neben der alten Hauptsparkasse. Dann musste ein Team zusammengestellt werden und wir mussten uns erst mal finden. Dazu haben wir im Juni einen Kick-Off Workshop mit fast 90 Personen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Gesundheitswesen und Ausbildung veranstaltet, wegen Corona leider nur virtuell. Im nächsten Schritt haben wir die Webseite entwickelt und später dann auch zwei Filme produziert. Einen kurzen Imagefilm und einen etwas längeren Film mit fünf Interviews: so mit der Handelskammer, zwei Senatorinnen, einer Wissenschaftlerin und einem Referenten der Gesundheitsbehörde. inzwischen wurden fast 40 Netzwerkpartner gewonnen. Die mussten aber auch erstmal alle angesprochen werden. Also insofern würde ich sagen, nach dieser Idee sind wir in diesem Jahr im Wesentlichen die Aufbauphase angegangen. Die ist jetzt, mit Ende dieses Jahres dann auch abgeschlossen. Das nächste Jahr wird so sein, dass wir uns einerseits vergrößern wollen. Wir sind gerade dabei, die zweite Etage anzumieten. Und wir wollen zusammen mit allen Netzwerkpartnern unsere Strategie weiterentwickeln, einen Beirat besetzen und auch das eine oder andere Projekt konkret angehen. Wichtig ist uns, dass wir in Zukunft eng mit den Netzwerkpartnern zusammenarbeiten, damit wir so eine Win-Win-Situation bekommen und alle etwas davon haben. Dann wollen wir verschiedene Formate ausprobieren. Das heißt Netzwerktreffen mit den Partnern zu bestimmten Themenbereichen, etwa dem Thema Pflegenotstand.

Erwähnenswert ist auch, dass wir gerade jetzt im Januar, zusammen mit dem Wissenschaftsressort ein Forschungscluster mit dem Thema „Gesunde Stadt“ auf den Weg gebracht haben. 6 Doktoranten und eine sogenannte Postdoc-Stelle, die dann hoffentlich auch hier im Gebäude sitzen, forschen 4 Jahre zum Thema. Das soll eine sehr stark anwendungsorientierte Forschung sein, so dass die Erkenntnisse die sich daraus ergeben, dann auch wirklich Bremen nutzen, was die Verbesserung der Gesundheitsversorgung angeht. Die sollen auch neue Ideen hier reinbringen. Das ist glaub ich auch ein starkes Signal. Das ist auch ausfinanziert. Die Bewerbungen sind inzwischen eingegangen. Zum April werden wir ein Netzwerkpartnertreffen machen, da werden dann das Projekt „Gesunde Stadt“ und die Doktoranten der Öffentlichkeit vorgestellt. Wir wollen ja Gesundheit in Bremen weiter nach vorne bringen und dazu gehören auch Überlegungen- „Wie sieht eigentlich eine gesunde Stadt aus und was muss da alles gemacht werden?“. Damit wird die Stadt ja auch attraktiv für Unternehmen aus der Health-Care-Branche, die sagen: Die in Bremen machen was in Sachen Gesundheit. Das kann auch attraktiv sein für Studierende oder für Auszubildende, die sagen, ich überlege mir vielleicht einen Gesundheits- oder Pflegeberuf zu erlernen, wo gehe ich hin. Wenn die sehen, in Bremen passiert was, da ist eine gewisse Dynamik drin, dann hoffen wir, dass wir eine Magnetwirkung haben für diese Menschen, nach Bremen zu kommen, wenn wir hier gute Arbeit- und Ausbildungsvoraussetzungen haben. Das ist das, was wir jetzt im neuen Jahr angehen wollen.

I: Das heißt natürlich auch ein anderes Herangehen an Gesundheitsversorgung

SG: Kurz gesagt bedeutet das: „Gesundheit neu denken“. Am Beispiel von Corona haben wir gesehen, wenn das nicht funktioniert mit der Gesundheit, so ist eine Pandemie in der Lage, ganze Gesellschaften lahmzulegen. Gesundheit muss einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft haben.  Und ich denke mit dem Thema „Gesunde Stadt“ sind wir da auf einem ganz guten Weg. Und so lernen wir auch, Gesundheit neu zu denken. Aber da haben wir schon gute Ansätze in Bremen. So etwa der Quartiersansatz. Das bedeutet, dass man stärker in die Quartiere rein gehen, dort wo die Menschen leben, und mehr maßgeschneiderte Angebote machen muss. Wir haben sehr unterschiedliche Quartiere in Bremen. Das Paradebeispiel ist immer der Gegensatz zwischen Schwachhausen und Walle/Gröpelingen. Da haben wir jeweils ein anderes Klientel und man muss überlegen, braucht man nicht je Quartier ganz eigene Konzepte. Dass wir in Bremen in die Quartiere zu den Menschen vor Ort gegangen sind, das ist auch das Geheimnis, warum wir mit dem Impfen in Bremen so gut weitergekommen sind. Die Gesundheitssenatorin, Frau Bernhard hat da sehr klug gehandelt und sich überlegt: Wir müssen in die Stadtteile reingehen und gucken, was da los ist und in den Stadtteilen Impfangebote machen, weil wir viele sonst gar nicht erreichen. Das ist eben sehr unterschiedlich, je nach Klientel. Deswegen glaub ich, dass die Zukunft der Gesundheitsversorgung eben auch stark am Sozialraum orientiert sein muss, also am Stadtteil oder Quartier. Insofern ist es ja auch gut, dass es inzwischen in Gröpelingen ein lokales Gesundheitszentrum gibt. Wenn ich das so richtig sehe, besteht die Absicht, sollte sich dieses Modell bewähren, weitere Gesundheitszentren in anderen Quartieren oder Stadtteilen zu errichten. Das wäre ein neuer Ansatz die Gesundheit nahe zur Bevölkerung zu bringen und das möglichst niederschwellig. Wir haben z.B. hohe Anteile an Menschen mit Migrationshintergrund, wir haben auch Stadtteile wo Armut ein Thema ist. Da muss man ansetzen, Gesundheit niederschwellig anzubieten. Man muss den Menschen die Möglichkeit geben, an Informationen heranzukommen, die sie brauchen, um nicht nur mit der eigenen Gesundheit besser umzugehen, sondern auch den Angebotsstrukturen. Das sind Beispiele für neue Denkansätze und wir wollen mit dem Gesundheitscampus und unseren Partnern dazu beitragen, solche neuen Ideen zu und in die Politik, vor allem aber in die Umsetzung zu bringen. Wir arbeiten da eng mit dem Wissenschaftsresort zusammen, aber auch mit dem Gesundheitsressort und dem Wirtschaftsressort.

Ein weiteres Beispiel: Mit Hilfe der Sparkasse machen wir ein kleines, aber wichtiges Projekt. Das ist nah dran am Projekt „Gesunde Stadt“.  Wir wollen hier vier verschiedene Altersgruppen einladen. Nicht zusammen, sondern, erstmal getrennt. Also eine Altersgruppe 15-17 jährige, eine Altersgruppe um die 30-40, eine Altersgruppe um die 60 und eine Altersgruppe 70-80. Immer jeweils 10-12 Menschen. Die laden wir hier ein und wollen denen die Frage stellen: Wie stellen sie sich ihre Gesundheit in Bremen in den nächsten Jahren vor. Wie soll aus ihrer Sicht die Gesundheitsversorgung in Bremen aussehen in der Zukunft. Und dann erwarten wir natürlich, von den verschiedene Altersgruppen ganz unterschiedliche Antworten.

So bekommen wir mit wenig Aufwand einen guten Eindruck, wie die Wünsche unterschiedlicher Generationen und ihre Vorstellungen von Gesundheit eigentlich sind. Auch solche grundlegenden Projekte wollen wir zu einem Teil unseres Konzeptes und unserer Strategie machen. Die Ergebnisse werden wir dann an die Politik zurückspiegeln und damit zu bürgernahen Konzepten der gesundheitlichen Versorgung in der Zukunft beitragen.

Bei all unserem Tun, schauen wir die 4 Felder Gesundheitswissenschaft, Gesundheitswirtschaft, Ausbildung von Gesundheits- und Pflegeberufen und Gesundheitsversorgung. Wie kann im Zusammenhang der vier Felder das Potential, das wir in Bremen jetzt schon haben, optimiert werden dadurch, dass wir alle mehr zusammenbringen. Denn viele an sich sehr gute Einrichtungen und Institute arbeiten zum Teil isoliert, obwohl je für sich genommen Spitzenleistungen bietet. Das Problem ist, dass wegen der mangelnden Zusammenarbeit sehr viel Potential zwischen den einzelnen Feldern liegen bleibt oder sogar ganz verloren geht. So kommen z.B. von 100% an Erkenntnissen, die wir durch die Forschung gewinnen, vielleicht 10% tatsächlich in der Praxis an, der Rest geht verloren und damit auch investiertes Geld. Wenn wir diese Lücken versuchen zu schließen und das gelingt, dann glaub ich können wir sehr stark in Bremen sein. Wir haben bundesweit mit die größten Public-Health Institute mit teilweise 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Bremen. Das wissen viele gar nicht. Und dass unsere Mediziner hier zum Teil auch forschen und ganz gute Forschungsprojekte mit guten Ergebnissen bearbeiten, wissen auch nur wenige in Bremen, nicht einmal die Kolleginnen und Kollegen an der Uni haben das gewusst. D.h. man weiß wenig voneinander und das wollen wir ändern. Wir wollen hier im Haus des Integrierten Gesundheitscampus Vertreter der genannten vier großen G´s haben, damit hier eine Art Nukleus entsteht aus dem heraus sich eine Dynamik entwickelt, die wir dann wieder weiter- und zurückgeben, vor allem aber in die Politik zurückgeben. Das ist, glaub ich, das Kerngeschäft. Deswegen bin ich jetzt dabei, die Etagen über uns, die derzeit leer stehen, so langsam zu füllen. Im Januar wird hier eine Mitarbeiterin einziehen, eingestellt von der Gesundheitsbehörde, aber unter unserem Dach arbeitend und natürlich auch mit uns arbeiten. Auf diese Art wird schon mal hier im Hause die Gesundheitsbehörde vertreten sein und uns ergänzen. Genauso wird es wahrscheinlich mit der Wirtschaftsbehörde laufen, im Sinne von Gesundheitswirtschaft. Und wenn das Forschungscluster „Gesunde Stadt“ kommt, mit den 5 Doktoranden, dann ist meine Überlegung, dass die auch hier sitzen werden. Dann haben wir das Wissenschaftsressort und verschiedene Hochschulen hier vertreten.  Was uns dann noch fehlt ist das vierte G, das für die Ausbildung von Gesundheits- und Pflegeberufen steht. Das wird natürlich auch durch die neue Mitarbeiterin des Gesundheitsressorts vertreten, aber auch ein großer Verein, der sogenannte Weser-Bildungsverbund Gesundheit und Pflege überlegt, die Geschäftsstelle bei uns anzusiedeln. Und dieser Verein hat immerhin 50 weitere Institutionen im Rücken. Das heißt, wir haben vier Felder, deren Akteure bisher relativ isoliert gearbeitet haben, die wollen wir hier zusammenballen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir so eine Dynamik reinkriegen.

I: Das hört sich sehr spannend an.

SG: Ja, das ist richtige Pionierarbeit, die uns allen mächtig Spaß macht, weil wir sie für den Standort Bremen als wichtig erachten.

I: wir haben natürlich in Bremen den Vorteil, dass wir eigentlich eine Stadt der kurzen Wege sind. Wenn ich also irgendetwas bewegen will und mir fehlt dazu ein bestimmter Mensch, dann gehe ich über die Straße und rede mit dem. In anderen Bundesländern ist das nicht so einfach. Da sind immer größere Hürden zu überwinden, denk ich.

SG: Jetzt bin ich ja kein echter Bremer, sondern ich komm so aus dem aus den Medien bekannten „Flutgebiet“ in der Gegend von Ahrweiler. Ich bin aber schon lange in Bremen, seit 1994, und 26-27 an der Uni gewesen, d.h. ich bin inzwischen relativ gut vernetzt in alle Bereiche, aber auch in Deutschland. Deshalb fällt es mir nicht so schwer. Ich kann sagen, ich ruf mal den oder den an. Das ist glaube ich eine wichtige Voraussetzung, wenn man Netzwerkarbeit betreibt, dass man einfach Leute kennt. Anders würde es nicht funktionieren.

I: Es könnte ja sogar gelingen in die Bereiche, wo eine strukturelle Unterversorgung besteht, reinzukommen.

SG: Ja, diese Bereiche haben wir natürlich auch in Bremen. Es gibt hier wie anderswo durchaus vulnerable Gruppen, und das nicht erst seit Corona, sondern vorher auch schon. Das hat natürlich sehr viel mit Sozialstruktur zu tun. Da kann und sollte man eine Menge machen. Ich glaube, dass Bremen sehr viel Potential hat, davon bin ich überzeugt, und auch eine vergleichsweise sozialorientierte Politik betreibt. Das muss man allerdings über die vier G`s hinweg gesehen noch mehr zusammenbringen und heben. Genau das wollen wir hier machen. Mal sehen wie weit wir kommen. Das kann noch immer alles scheitern. Aber ich bin im Moment sehr optimistisch. Es hängt ein bisschen davon ab, dass Politik da auch mitmacht, denn ohne politischen Rückenwind ist man verloren. Noch läuft das eigentlich ganz gut. Wir werden finanziert über Landesmittel bzw. den Bremen-Fonds, angebunden an das Wissenschaftsressort. Ich könnte mir aber sehr gut vorstellen, dass das Gesundheitsressort und später auch das Wirtschaftsressort sich hier zu uns gesellen und dann kann das etwas ganz Großes werden. Da werden uns die anderen Bundesländer beneiden.

I: Das hört sich gut an. Jetzt noch eine Frage: Welche Vorteile hätte das für ältere Menschen?

SG: Ich glaube wir machen in Bremen keine schlechte Seniorenpolitik. Wir haben hier auch Vorzeigeprojekte. Also diese schon erwähnten Quartiersansätze mit Quartiersmanagerinnen und –managern oder z.B. den Ellener-Hof, das neue Projekt über die Bremer Heimstiftung initiiert. Hier werden regelrecht Dorfgemeinschaften entwickelt, wo viele Generationen zusammenkommen und unterschiedliche Angebote vorfinden. Das sind auch Blaupausen für andere Bundesländer, die man weiter ausbauen kann. Das geht vor allem auch in die Richtung, stärker wieder in den Quartieren Nachbarschaften zu aktivieren und da auch ein Stück weit eine neue Kultur des sich Kümmerns reinzubringen. Das hat auch damit zu tun, dass wir uns auf Dauer nicht darauf verlassen können in jeder Situation genügend Personal haben, wenn es um Pflege z.B. geht. Davon bin ich fest überzeugt:

I: Es kann nicht so gehen, dass wir alle alten Menschen in Pflegeheime schicken.

SG: Das geht allein deshalb nicht, weil wir aus jetziger Sicht in Zukunft gar nicht das Personal haben, die Pflegeheime zu betreiben. Wir werden aber eine Zunahme an pflegebedürftigen Menschen haben. Deshalb wird es wichtig sein, dass man sich gegenseitig kümmert. Das ist ja ein Stück weit Prävention und wird dazu führen, dass ältere Menschen viel länger in der häuslichen Umgebung bleiben können. Genau da setzt ja die Arbeit in den Quartieren an: wir müssen die angestammten Quartiersstrukturen stärken, damit das Leben so lange wie möglich da auch stattfinden kann. Wir hatten vor Jahren ein Projekt mit der GEWOBA Bremen, die als Wohnungsbaugesellschaft über 40.000 Wohneinheiten betreut. Im Bestand leben auch sehr viele älteren Menschen. Das gemeinsame Ziel unseres Forschungsprojektes mit der GEWOBA war es, das ältere Menschen so lange wie möglich in ihrer Wohnung verbleiben können.

Da ging es ganz praktisch darum Strukturen zu schaffen, die dies ermöglichen. So lieferten Einzelhändler Waren in den Wohnbestand für Menschen, die nicht mehr mobil waren oder auch Theaterkarten, um unnötige Wege zu ersparen. Das war ein Gewinn für die älteren Menschen ebenso wie für die GEWOBA. Solche Modelle braucht man eigentlich mehr. Dazu haben wir auch eine entsprechende Forschung an den Hochschulen, die Ergebnisse müssen aber mehr von der Praxis übernommen werden.  Wenn das gelingt, dann kann man ziemlich viel bewegen. Und das ist ja genau der Ansatz des Integrierten Gesundheitscampus Bremen: wir haben eine ziemlich gute Forschung in Bremen, die genau zu diesem Punkt forscht, also im Sinne von Stadtwicklung, Quartiersentwicklung. Aber das muss viel stärker in die Stadt reinkommen. Da muss die Wissenschaft mit den entsprechenden Behörden noch besser zusammenarbeiten, damit sich auch an der Basis was ändert. Ich habe selber gerade eine kurze Befragung der Quartiersmanagerinnen und Quartiersmanager gemacht, die sich ja auch um das Thema Altern kümmern. Diesen Ansatzpunkt finde ich sehr gut, den muss man aber verstärken. Weil die im Moment da noch ziemlich alleine auf weiter Flur arbeiten. Wenn es feste und verlässliche Kümmerstrukturen in den Quartieren gibt, und Quartiersmanagement ist ja so eine Kümmerstruktur, und wenn man die ausbaut, dann kann man glaube ich sehr viel für die Lebensqualität gerade älterer Menschen und nicht nur für diese tun. Das wollen wir gerne unterstützen und auch unser Forschungscluster „Gesunde Stadt“ passt hier ja ganz gut. Das wäre so ein Punkt, wo wir in Bremen gemeinsam Innovationen mit vorantreiben können, dadurch dass wir Menschen, die Stadtteile und Quartiere und die Infrastruktur und deren Einrichtungen stärker miteinander vernetzen und das auf die politische Agenda bringen. Nicht von ungefähr kommt in unserem Imagefilm das Thema Alter relativ stark vor. Es ist uns ein Anliegen. Ich komm ja, was meine wissenschaftliche Karriere angeht, von dem Thema Alter/Alternsforschung her. Ich habe, bevor ich nach Bremen gekommen bin, 10 Jahre als Wissenschaftler in einer geriatrischen Klinik gearbeitet, im Albertinenhaus in Hamburg. Damals und auch heute noch eine der bedeutendsten und modernsten geriatrischen Kliniken in Deutschland.  Ich habe dort auch viel mit den Angehörigen zu tun gehabt, insofern weiß ich, welche große Belastung die haben, und dass man für die auch sehr viel tun muss, das kann ich auch hier mit einbringen.

I: Ich denke, es geht auch darum, zu versuchen die Strukturen, die vorhanden sind, also wenn ältere Menschen noch ein familiäres Umfeld haben, soweit zu stärken, dass dieses Umfeld tatsächlich dann die Pflege ohne allzu große Belastungen übernehmen kann.

SG: Es gibt jetzt von der Barmer eine neue Studie, wo prognostiziert wird, dass wir bis ins Jahr 2060 sehr viel mehr Pflegebedürftige haben werden, also die Prognosen das bisher vorausgesagt haben. Dies liegt u.a. daran, dass die Lebenserwartung steigt und damit auch die Wahrscheinlichkeit am Lebensende Pflegebedürftig zu werden. Die große, zumindest aber die zentrale soziale Frage in unserer Gesellschaft wird sein, wer dann die Pflege übernimmt. Es wird uns nur sehr schwer gelingen, das einzig und allein über professionelle Pflege oder Pflegeheime zu tun. Wo soll das Personal herkommen? Es fehlen in den nächsten Jahren Hundertausende. Deshalb fand ich es auch etwas zu kurz gesprungen, dass einige Träger aus der Prognose gleich auf einen vermehrten Bedarf von Pflegeheimen geschlossen haben. So einfach wird das nicht sein, wenn das Personal fehlt.

I: Zu glauben, dass wir diesen Bedarf durch noch mehr Pflegeheime lösen können ist unrealistisch.

SG: Ja, ich denke die Investoren wären da, aber wir haben das Personal nicht. Dafür brauchen wir andere Strukturen, und wir müssen eben auch auf Menschen setzten, die nicht professionell in der Pflege unterwegs sind, sondern dies ehrenamtlich oder in der Familie oder in anderen neuen Wohnstrukturen und schließlich auch in den Quartieren als Kümmerer tun, also dort, wo die älteren Menschen, um die es ja geht, auch leben. Wir müssen also die angestammten Quartiersstrukturen stärken, damit das Leben so lange wie möglich dort auch stattfinden kann. Davon brauchen wir mehr und zum Glück ist diese Denke in Bremen gut verwurzelt, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis. Wenn es uns jetzt noch gelingt, die verschiedenen Akteure aus den Bereichen der Gesundheitsforschung, der Gesundheitsversorgung, der Gesundheitswirtschaft und der Ausbildung von Pflege- und Gesundheitsberufen an einen Tisch zu bringen, dann kann man ziemlich viel bewegen in Bremen. Diese Zusammenarbeit stärker voranzubringen, ist ein wesentliches Ziel des Integrierten Gesundheitscampus Bremen. Es gehört auch ein bisschen visionäres Denken dazu und man muss auch davon überzeugt sein, dass es gelingt. Und das bin ich.

I: die Voraussetzungen sind glaub ich ganz gut.

SG: Bis jetzt läuft es ganz erfolgreich. Und jetzt müssen wir über eine gemeinsame Strategie aller Beteiligten in die Umsetzung kommen.

I: Im Moment habe ich keine Fragen mehr. Vielen Dank

Professor Dr. Stefan Görres ist emeritierter Professor und Koordinator des IGB (Integrierter Gesundheitscampus Bremen).
Die Fragen stellte Michael Breidbach

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