Vierte Bremer Armutskonferenz…

(c)Bremer Armutskonferenz

… mit einem Blick in die Bremer Quartiere

Mit über 200 Teilnehmer*innen war die vierte Bremer Armutskonferenz am 5. Februar wieder gut besucht und viel zu schnell ausgebucht. Das soziale Bündnis zur Vorbereitung der Konferenz besteht aus dem Paritätischen Bremen, der Arbeitnehmerkammer, der AWO, dem Bremer Rat für Integration, der Caritas, dem DGB, dem Diakonischen Werk, der Bremischen evangelischen Kirche, dem katholischen Gemeindeverband, der Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit Bremen, sowie den Bremer Quartiersmanager*innen und dem Gesundheitstreffpunkt West.

Bisher

Nach der ersten Konferenz, die im Jahr 2013 stattfand, damals noch unter dem Titel „Chancen- und Armutskonferenz“ zu dem Thema „Kinderarmut“, gründete sich ein Bremer Bündnis für Sozialen Zusammenhalt. Die zweite Armutskonferenz 2016 „Armut und Teilhabechancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bremen“ forderte besser Chancen und Teilhabe für Jugendliche in den Problembereichen Berufsausbildung und schulische Ausbildung. „Armut macht krank“, Armut als das größte Gesundheitsrisiko, war das Thema der dritten Bremer Armutskonferenz im Jahr 2018. Im Ergebnis wurde daraus die Forderung nach einer Weiterentwicklung von Gesundheitsförderung und Armutsprävention mit koordinierten Förderstrategien für die Quartiere in Bremen abgeleitet. Jetzt, im Jahr 2020, war es nach Ansicht des organisierenden Initiativkreises Zeit für eine Zwischenbilanz: Was konnte erreicht werden, was hat sich verändert? Dies wurde konkret abrufbar und erfahrbar durch den „Blick in die Bremer Quartiere“ mit den Fragestellungen: Wie hat sich die Stadt, wie haben sich die Quartiere verändert? Welche Strategien, Forderungen und Perspektiven gibt es in den Bremer Quartieren?

Die statistische Basis

In seinem Eingangsstatement, mit statistischem Material hinterlegt, gab René Böhme (Universität Bremen, iaw) zunächst einen bedrückenden Einblick in die soziale Spaltung der Stadt und den stadtteilbezogenen Ungleichheiten. Die Schere der sozialen Ungleichheit geht immer weiter auf. Das durchschnittliche steuerpflichtige Einkommen liegt in den Quartieren zwischen 144.000€ in Horn und 18.000€ in Neue Vahr Nord (2013), der Bezug von Sozialleistungen nach SGB II liegt bei den unter 15jährigen zwischen 1% in Borgfeld und 58,5% in Grohn (2018), die Mittelwerte bei der Abiturquote liegen zwischen über 77% im Quartier Bürgerpark und 6,4% in Grohn, um nur einige Zahlen herauszugreifen. Dies alles ist ein Anzeichen von Segregation, das heisst einem räumlich polarisiertem Auftreten von Armut, und die Bestätigung, dass der Schlüssel für soziale Stärke in der Bildung zu suchen ist und diese wiederum durch den sozialen Status und dem Wohnquartier des Elternhauses bedingt wird. Bei der politischen Teilhabe ergibt sich ein entsprechendes Bild: Die Wahlbeteiligung liegt in den Quartieren zwischen über 85% in Schwachhausen und 42,6% in Tenever (2019). Im Ländervergleich nimmt Bremen bei der Einkommensarmut weiterhin gemessen am Bundesmedian den Spitzenplatz ein mit 22,7% (2018), im Großstadtvergleich liegt Bremen mit 21,6% hinter Duisburg, Dortmund und Leipzig auf dem viertschlechtesten Platz, München mit 10% an der Spitze. Der hohe Anteil von Kindern unter 18 in Hartz-IV-Haushalten von 30,3% beschert Bremen einen weiteren negativen Spitzenplatz im Großstädtevergleich.

Der Blick in die Quartiere

Bestandteil der 4. Armutskonferenz waren wohlorganisierte Besuche in insgesamt 17 Stadtquartieren. Mein Besuch des Ortsteils „Neue Vahr“ an der Berliner Freiheit im „Hanna-Harder-Haus“ wird Gegenstand eines gesonderten Artikels sein. Es sei aber bereits hier angemerkt, dass die breite Palette der dort vorgestellten Aktivitäten besonders für Senior*innen beispielhaft zu nennen sind.

Was kann Bremen tun?

Einen bemerkenswerten Vortrag am Nachmittag hielt der Soziologie-Professor Stefan Sell von der Hochschule Koblenz zum Thema „Eine aktuelle Bewertung der Bundespolitik, und was die Stadtpolitik Bremen gegen Armut tun kann“. Er hielt ein Plädoyer für  die Einführung von Mindestsicherungsrenten jenseits der zur Zeit beschlossenen Grundrentenregelung, äußerte sich dezidiert zum Pflegenotstand und erläuterte mögliche Szenarien, die sich für das bestehende deutsche Rentensystem in den kommenden zehn Jahren aus dem Übergang der Babyboomer-Generation in das Rentendasein und den Übergang einer großen Zahl von Ostdeutschen in die Rente, die nach der Vereinigung keine rentenrelevanten Einkünfte erzielen konnten, für die Kommunen ergeben werden.

Finanzierung der Pflege

Die Anmerkungen zum Pflegenotstand und seiner Bewältigung aufgrund der grossen Herausforderungen, die in den kommenden Jahren erst noch entstehen haben Professor Sell zu der Aussage veranlasst, dass sich eine Pflege vor Ort von den jetzigen Akteuren, den öffentlichen Pflegestellen auf der einen Seite und dem größten „Pflegeunternehmen“, den privaten und familiären Pflegenden auf der anderen Seite, zukünftig nicht bewältigen lässt. Pflegepersonal in dem notwendigen Umfang wird nicht zu finden sein, in Deutschland nicht und auch nicht im nahen und fernen Ausland. Dazu empfiehlt er die Einrichtung eines „Dritten Sozialraums“, einem 1000 bis 10.000 Einwohner umfassenden Nachbarschafts- oder Wir-Raum (Nachbarschaften, Vereinsleben, informelle Treffpunkte, kirchliche Gruppen, soziale Initiativen). Dieser Vorschlag wurde bereits 2008 von Klaus Dörner gemacht: „Die Bürger können sich im Schutz dieser Begrenzung wesentlich breitwilliger für andere engagieren, weil sie nicht für alle, sondern nur für „unsere“ Hilfsbedürftigen (auf diesen Sozialraum beschränkt) ihre Zeit verausgaben müssen.“ Vorgemacht haben uns das unsere niederländischen Nachbarn in Form der „Buurtzorg“, Nachbarschaftshilfe und einer „gesellschaftliche Unterstützung“ (Wet maatschappelijke ondersteuning (WMO)), die dort gesetzlich verankert ist (zu „Buurtzorg“ siehe auch den gesonderten Artikel von Monika Sattelberg im SeniorenLotsen gestern).

Zum Abschluss wurde der vielfältige Input abgerundet durch einen Vortrag von Dr. Sören Hoyer von der Landeskommission zu Prävention von Kinder- und Familienarmut in Berlin. Dort wird seit einigen Jahren mit großem verwaltungstechnischen Aufwand versucht, das Armutsproblem auf regionaler Ebene präventiv zu bekämpfen, die Strukturen erscheinen allerdings dem Außenstehenden durch personell überfrachtete Ausschüsse wenig nahe am realen Geschehen. Erfolge oder Teilerfolge sind dort auf Nachfrage noch nicht greifbar vorhanden.

Dr. Dirk Mittermeier

  1 comments for “Vierte Bremer Armutskonferenz…

  1. matu sagt:

    So viele gute Ideen und Erkenntnisse,
    die politisch endlich umgesetzt werden müssen:
    von der Pieke auf !

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