Neulich kam endlich wieder Besuch…

Teddy auf Fensterbank

(c) Robers, frauenseiten

Einsamkeit als Kind

Kindheitserinnerungen begleiten manche Menschen ein Leben lang, so das Gedächtnis gut funktioniert. Gerda erinnerte sich daran, dass sie eines Tages von ihrer Mutter an das Fenster des Wohnzimmers gerufen wurde mit dem Satz: „Guck mal Gerda, wir bekommen Besuch.“

Besuch gab es seinerzeit höchstens am Wochenende oder an den Feiertagen, denn an den normalen Wochentagen, beschäftigte die Familie sich mit der Arbeit. Der Vater arbeitete in seinem Beruf außerhalb des Hauses, die Mutter arbeitete im Haus oder Garten, einige Nachbarn arbeiteten in ihren Geschäften oder auf dem Felde.

Deshalb war Gerda auch sehr erfreut, jetzt etwas Abwechslung in ihrem Kinderalltag zu erhalten. Erwartungsvoll blickte sie aus dem Fenster, konnte aber leider niemanden erkennen. Sie war sehr enttäuscht.

Enten schwimmen auf dem wasser

(c) H. Schnatmeyer

„Da ist doch niemand zu sehen“ teilte sie ihrer Mutter mit, immer noch in der Hoffnung, dass der Besuch sich irgendwo versteckt hätte. Jedes Mal wenn die Familie Besuch erhielt, ging es lustig zu. Die Mutter hatte gute Laune, es wurde Musik angestellt und alle waren froh, dass sie zusammen sein durften.

„Guck doch mal, da drüben, was siehst du da?“ wollte Gerdas Mutter wissen. „Das sind doch nur Enten, keine Menschen. Das ist doch kein Besuch“ empörte sich Gerda. „Natürlich, die kommen auf unseren Zaun zu, die wollen etwas von uns. Wahrscheinlich sind sie nur neugierig“ erklärte die Mutter. Gerda aber ging in ihre Ecke hinter dem Ofen, um weiter mit ihrer Puppenstube zu spielen.

Einsamkeit im Alter

Felsen vor bewölktem Himmel

(c) Bettina Stiller

Inzwischen ist Gerda 83 Jahre alt geworden. Jeden Morgen steht sie früh um fünf auf, wie sie es seit ihrer Jugend so kennt. Zuerst die Körperpflege, dann das Frühstück, danach der kleine Abwasch. Die einzige Abwechslung um diese frühe Stunde, ist die Zeitung. Zuerst die Todesanzeigen auf der vorletzten Seite. Dann der Lokalteil. Politik interessiert sie nicht mehr.

Gerda wohnt mit ihrem Sohn in ihrem Zweifamilienhaus auf dem Lande, immer noch in dem kleinen Dorf, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat. Gegen sieben Uhr hört sie ihren Sohn im Badezimmer rumoren. Um kurz vor acht verlässt er das Haus, um zur Arbeit zu fahren. Vielleicht kommt er am Abend so früh zurück, dass sie einen Kaffee zusammen trinken können.

Irgendwann am Vormittag geht Gerda in den Garten, um sich dort ein wenig umzusehen. Der Briefträger geht auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. Es schreibt ihr keiner mehr Briefe oder Karten. Es ruft auch niemand mehr an. Die meisten Menschen sind gestorben, der Rest arbeitet.

Um elf Uhr wird Gerdas Mittagessen als „Essen auf Rädern“ gebracht, das sie lustlos und allein verspeist. Danach hält sie ihren Mittagsschlaf. Beim Einschlafen denkt sie an die Geschichte mit den Enten aus ihrer Kindheit. Sie würde sich freuen, wenn ihr wenigstens ein paar Enten, etwas Lebendiges, einen Besuch abstatten würden, bevor sie wieder den ganzen Nachmittag und Abend vor dem Fernseher verbringt bis sie sich früh schlafen legt.

Sophie Mory

  2 comments for “Neulich kam endlich wieder Besuch…

  1. Sunny sagt:

    Ich hoffe, es ist eine fiktive traurige Geschichte und Sie sind nicht selbst
    betroffen. Lieben Gruß von Sunny.

  2. Ingrid sagt:

    Welch ein trostloses Leben! Ich kenne 83 jährige Frauen, die sehr aktiv sind. Sie gehen wandern im Wanderverein, haben dadurch Freunde und treffen sich zum Karten spielen und gehen zusammen Kaffeetrinken. Ich glaube es liegt an jedem selbst, was er aus seinem Leben macht. Wer sich nicht rührt und Kontakte knüpft, endet eben so wie beschrieben, trostlos und einsam.

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